Partizipative Moderation von Veränderungsprozessen

(Einführung von Department-Strukturen z.B. TU Nürnberg)

Der Wissenschaftsrat hat am 03.02.2020 ein Positionspapier (Anwendungsorientierung in der Forschung (Drs. 8289-20), Januar 2020) veröffentlicht, dass einigen Sprengstoff für alle Wissenschafts-Strategen enthält.

Der Wissenschaftsrat sagt schon im Vorwort (ebenda S. 5-6), dass er mit dem Konzept der Anwendungsorientierung in der Forschung „das Kontinuum zwischen den beiden Polen von Grundlagen- und angewandter Forschung in den Vordergrund rücken, um Neu- und Umorientierungen in Forschungsprozessen zu erleichtern und ihre Dynamik zu befördern.“

Damit wird offenbar angedeutet, dass die in Deutschland weit verbreitete Trennung zwischen Grundlagenforschung (meist an den Universitäten) und angewandter Forschung (meist an den HAWs) die erforderliche Dynamik in der Forschung nicht gerade positiv beeinflusst hat.

„Die Rede von der Anwendungsorientierung in Forschungsprozessen adressiert eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Problemlösungen und Anwendungsmöglichkeiten in allen Forschungsprozessen, ohne dass diese in jedem Einzelfall als verbindliches Ziel festgeschrieben sein sollte. Dies bedeutet auch, dass Forschungskategorien nicht länger exklusiv einzelnen Typen von Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen zugeordnet werden können.“

Kritik

Aus Sicht des wissenschaftsstrategisch Interessierten war diese Klarstellung dringend erforderlich, wenn die deutsche Wissenschaft nicht gegenüber dem angelsächsisch-chinesischen Pragmatismus zurückfallen soll. Nach meiner persönlichen Überzeugung kann der Wissenschafts-/Wirtschaftsstandort Deutschland seine Konkurrenzfähigkeit langfristig nur behaupten, wenn sich Universitäten und übrige Hochschulen sowie Forschungsinstitute einer Region in allen Fachgebieten viel enger als bislang miteinander „verbünden“ , um

  • gemeinsam echte Spitzenforschung in den weltweit interessierenden Zukunftsthemen zu erreichen wie „Bekämpfung von Krebserkrankungen“, „künstliche Intelligenz“ oder „klimaneutrales Wirtschaftswachstum“ und damit
  • die gesellschaftlich relevanten Forschungsthemen schneller zu lösen (natürlich zusammen mit den Forschern der gewerblichen Wirtschaft!).

Man beachte an dieser Stelle auch die entsprechende WR-Stellungnahme.

Wir haben im Rahmen des mehrjährigen PwC-Forschungsprojekts „Steuerungsprobleme großer Universitäten in Zeiten der Exzellenzinitiative“ am Ende doch erhebliche Zweifel formulieren müssen an Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Effizienz der bisherigen deutschen Forschungsförderung mit „Exzellenzinitiative“ und -strategie“ (vgl. das Buch Marettek 2016, Steuerungsprobleme großer Universitäten in Zeiten der Exzellenzinitiative, S. 49-84).

Als typisch deutsche Innovationshemmnisse wurden identifiziert:

  • ein kleinteiliges, häufig noch immer stark konkurrenzorientiertes Nebeneinander der öffentlichen Hochschultypen von Universitäten und HAWs (diesbezüglich ist die WR-Stellungnahme m.E. ein Schritt in die richtige Richtung)
  • die in Deutschland häufig theorieorientierten Forschungskulturen vieler wissenschaftlicher Fachdisziplinen, die dominant darin sind zu beurteilen, was gute Forschung ist, dies führt zu einer gewissen Schwerfälligkeit im Hinblick auf die eigentlich stärker nötige transdisziplinäre Forschung (wie sie jetzt vom Wissenschaftsrat erneut betont wird)
  • das immer noch ineffiziente Nebeneinander der öffentlichen Hochschulen einerseits und der außeruniversitären Forschungsinstitute andererseits (ebenda S. 83), das die Stellung der Hochschulen im Wettstreit um die weltweit besten Forscher schwächt, eine demokratiekonforme Konkurrenz der Regionen wäre eher im Interesse der Steuerzahler (ebenda S. 67)
  • die zu starke Dominanz der einzelnen Lehrstuhlinhaber/Direktoren von Forschungsinstituten im Verhältnis zum wissenschaftlichen Kollektiv (ebenda S. 61), verbunden mit der sogar gesunkenen Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einen der begehrten Chefposten zu bekommen; in diesem Zusammenhang ist nicht nur das „akademische Prekariat der befristet Beschäftigten“ unbefriedigend, sondern vor allem auch die hohe Wahrscheinlichkeit, dass durch die genannten Strukturen die Flexibilität der Forschung insgesamt behindert und neuartige Innovationen erschwert werden dürften (ebenda S. 65).

Alle genannten Faktoren zusammen belasten die eigentlich noch stärker notwendige Fokussierung auf die wirksame transdisziplinäre/ interdisziplinäre Erforschung der gesellschaftsrelevanten Zukunftsthemen – so meine sicherlich etwas überspitzt formulierte These.

Beispiel TU-Nürnberg

Wichtig ist das die Neuerungen bis zur kleines hessischen Hochschule noch anwendbar sind.

Die Bayrische Landesregierung hat beschlossen, die neue TU Nürnberg (TUN) im Nürnberger Süden auf dem ehemaligen Güterbahnhof für 1,2 Mrd EUR neu zu errichten, die modellhaft ganz ohne Fachbereichsstrukturen auskommen soll, dafür aber mit je einem hauptamtlichen Dekan für die fünf inter- und transdisziplinär arbeiten Departments ausgestattet werden soll.

Mit einem angestrebten Betreuungsschlüssel von 1:25 sollen ab 2025 künftige Forscher und Fachkräfte interdisziplinär ausgebildet werden.

Man plant mit 5000-6000 Studierenden. Die Konzeption stammt von einer Strukturkommission um den ehemaligen Präsidenten der TU München Wolfgang Herrmann, die am 31.01.2020 auch in der Stellungnahme des Wissenschaftsrats zum Konzept zur Gründung der Technischen Universität Nürnberg (Drs. 8254-20) bestätigt wurde.

Der Wissenschaftsrat formuliert zur Gründung in seiner Presseerklärung zurückhaltend:

Eine wissenschaftspolitische Bewertung der Gründungsentscheidung, an der er nicht beteiligt war, ist damit nicht verbunden. Das Konzept enthält nach Auffassung des Wissenschaftsrats zahlreiche überzeugende Elemente, um auf aktuelle Herausforderungen im Hochschulsystem zu reagieren. Vor allem die netzwerkartige Grundstruktur wird als zukunftsweisend bewertet. Insgesamt sieht der Wissenschaftsrat bei einigen Punkten jedoch noch Klärungsbedarf, da manche Ziele und Elemente des Gründungskonzepts noch nicht miteinander vereinbar erscheinen.“

Wenn man dann genauer in der Stellungnahme des Wissenschaftsrats liest, wird u.a. auf Seite 56 Folgendes angemerkt:

„Dem Verhältnis zum regionalen Umfeld wird im Konzept zwar unter dem Stichwort „Netzwerkuniversität“ eine grundsätzlich große Bedeutung für die neue Universität beigemessen. Voraussetzungen und Erfolgsbedingungen einer gelingenden regionalen Einbindung werden aber noch nicht hinreichend in den Blick genommen.

Frühzeitige Abstimmungen mit entsprechenden Akteuren bereits in der Gründungsphase – darunter vor allem mit der FAU – stellen aus Sicht des Wissenschaftsrats (und anders als im Konzept vorgesehen) einen zentralen Erfolgsfaktor für die Entwicklung der TU Nürnberg dar.

Hierbei ist auch zu reflektieren, wie das Verhältnis von zwei Universitäten mit technischem Studienangebot in nächster räumlicher Nähe konstruktiv gestaltet werden kann. Dies ist vermutlich am besten dadurch zu erreichen, dass sich die deutlich kleinere Neugründung in ihren Aktivitätsfeldern komplementär zu der deutlich größeren Universität Erlangen-Nürnberg verhält.“

Die Presse titelte bereits „Edel-TU“. Im Handelsblatt (11.02.2020) formulierte der Rektor der TU Stuttgart Wolfram Ressel im Interview, dass sich derartige Strukturen bundesweit alle TU-Rektoren wünschen und dass daher schon etwas Neid aufkommen könne.

An der TUN entstehen sechs Departments:

  • Mechatronic Engineering,
  • Quantum Engineering,
  • Biological Engineering,
  • Computer Science and Engineering,
  • Humanities and Social Sciences,
  • Natural Sciences and Mathematics.

Das Organigramm (entnommen aus der Stellungnahme des Wissenschaftsrats S.17):

Die Lehre erfolgt weitgehend digital in sog. „inverted classrooms“ mit einer Kombination aus Vorlesungen, E-Learning, Blended Learning. In der Stellungnahme des Wissenschaftsrats heißt es auf Seite 30:

„Die Zusammenstellung der digitalen Inhalte soll bereits vor Aufnahme des Lehrbetriebs durch Fachexpertinnen bzw. Fachexperten, die sogenannten „Instructional Designers“, in einem „Zentrum für Digitale Lehre“ vorgenommen werden. Die Inhalte sollen nach vorheriger Qualitätssicherung zu den benötigten Selbstlernpaketen auf dem universitären Lernnetzwerk zusammengestellt, administriert und angeboten werden.“

Das Studienkonzept der TUN umfasst ein integriertes fünfjähriges Curriculum mit einer reformierten Bachelorphase und einer konsekutiven Masterphase, die zeitlich und inhaltlich mit der Promotionsphase verschränkt sein kann.

Wolfgang Herrmann im Interview im Merton-Magazin:

„Auf jeden Fall werden digitale Lehr- und Lernmethoden umfangreich zum Einsatz kommen, die das individuelle Eingehen auf den einzelnen Studierenden – auf jeweils unterschiedliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Lerngeschwindigkeiten – ermöglichen. Wichtig auch: Die Vermittlung von zu viel technischem Detailwissen im Hörsaal wird abgelöst durch guided teaching. Heißt: weniger Stunden im Hörsaal, dafür eine gute Anleitung zum Selbststudium. Dadurch werden Kapazitäten für die geistes- und sozialwissenschaftlichen Inhalte im Studium frei. Wir haben in unserer Strukturkommission als Berater ausgewiesene Lehreexperten wie etwa Jürgen Handke aus Marburg. Er hat viele gute Ideen für die Digitalisierung der Lehre bereits in der Praxis erprobt. Handke setzt zum Beispiel künstliche Intelligenz–Roboter in Lehrveranstaltungen ein“.

Kritik

Kritiker werfen der Regierung um Ministerpräsident Söder vor, mit einer Eliteuniversität in dessen Heimatstadt teure Doppelstrukturen zu schaffen.

Hintergrund: In Nürnberg existiert bereits die Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm mit rund 13 000 Studierenden. Auch die benachbarte Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat eine angesehene technische Fakultät.

Nach meiner Einschätzung ist jedoch die Förderung der Wissenschaftsregion Nürnberg selbst als notwendig einzuschätzen und insoweit sehr zu begrüßen, vor allem angesichts der großen Bedeutung der Wissenschaft als Standortfaktor. Hintergrund ist das im Vergleich zum Standort München bislang festzustellende regionale Ungleichgewicht der Wissenschaftsförderung (siehe die folgende Abbildung aus meiner Analyse zur Situation im Freistaat aus 2015).

Auch das fachlich m.E. überzeugende Konzept der TUN dürfte tatsächlich aus wissenschaftsstrategischer Sicht für ganz Deutschland wichtig sein – insbesondere um die Interdisziplinarität von Forschung und Lehre, wie sie für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen wichtig ist, endlich auch in Deutschland stärker umzusetzen.

Schade ist allerdings, dass offenbar keinerlei Anstrengungen unternommen werden, die schon in Nürnberg/Erlangen vorhandene technische Forschung und Lehre (durchaus ebenfalls beachtlich) in die neue Universität zu integrieren. Es ist leider viel einfacher, auf der „grünen Wiese“ (bislang noch Gütergleise) neu anzufangen, als das „idealistische Bohren dicker Bretter“ auf sich zu nehmen.

Im Ergebnis wird leider dadurch etwa ein Jahrzehnt verpasst (solange dürfte die TUN brauchen, bis man Spitzenforschung erwarten kann), in dem eigentlich bereits wichtige Fortschritte in Richtung auf zusätzliche interdisziplinäre Innovationen (und die entsprechenden Arbeitsplätze) hätten gemacht werden können.

Ähnlich auch der Wissenschaftsrat (S.51):

„Aus Sicht des Wissenschaftsrats erscheint die im Konzept vorgeschlagene fachliche Breite mit sieben Aktivitätsfeldern in Bezug auf das angestrebte Qualitätsniveau zu ambitioniert. Es steht außer Frage, dass auch kleinere Universitäten dieses Leistungsniveau in einzelnen Feldern erreichen können. Das angestrebte internationale Spitzenniveau erscheint für die TU Nürnberg in einzelnen Aktivitätsfeldern erst langfristig erreichbar. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Spitzenberufungen aus dem Ausland. Um diese an eine im Aufbau befindliche Einrichtung zu realisieren, sollten auch die Kooperationsmöglichkeiten mit renommierten Fachkolleginnen und -kollegen an benachbarten Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten genutzt werden.“

Uneingeschränkt positiv beurteilen würde ich jedoch die angestrebte Interdisziplinarität im TUN-Konzept selbst, mit deren Hilfe 7 Aktivitätsfelder (definiert nach gesellschaftliche Herausforderungen) bearbeitet werden sollen, weil damit m.E. ein Kernproblem deutscher Universitätsforschung angesprochen wird (welche bislang zu stark von den Fachgemeinschaften geprägt werden).

Der Wissenschaftsrat fordert hierzu noch mehr Konkretisierung (ebenda S.52):

„Die für das Gründungsvorhaben herausragende Bedeutung der Interdisziplinarität erfordert aus Sicht des Wissenschaftsrats ein differenziertes Verständnis der fächerübergreifenden Zusammenarbeit, das im Gründungskonzept noch nicht ausführlich entwickelt worden ist.“

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