Integration der Psychologie in der Managementforschung

Schrittweise psychologische Fundierung der Managementforschung

Die psychologische Fundierung die Managementforschung geschah im Laufe der letzten 60 Jahre in mehreren Schritten.

Peter Drucker

Als Gründer der Managementlehre/ -forschung wird meist Peter Drucker genannt, der 1956 eine wichtige Arbeit veröffentlichte:Drucker 1956, Praxis des Managements.

Drucker verlangt von den Managern ein hohes Maß an Selbstdisziplin, um nach einem längeren Prozess der Selbstentwicklung (durch disziplinierte Arbeit an sich selbst) ein höheres Maß an Effektivität zu erreichen (Wirksamkeit im Interesse der Organisation). Nur so könne man zu einer echten Führungskraft werden, die etwas Positives für das Unternehmen leiste. Drucker hat sogar die Notwendigkeit einer demütigen Grundhaltung des Managers betont: Nur so reift ein Manager zur wirksamen Führungskraft heran, wenn er sich selbst und seine Arbeitseffektivität erzieht. Vgl. Drucker 1993, Die ideale Führungskraft, S. 255ff; Drucker 1956, Praxis des Managements; Marettek 2013, Wirksames Management für öffentliche Einrichtungen, S. 27.

Drucker überschreibt seine Zusammenfassung mit „Effektivität muss gelernt werden“ (vgl. ebenda S. 255) – was in gewisser Weise sein Programm ausdrückt: er fordert,

dass die „Führungskraft ihre Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt eines nach außen wirkenden Beitrags betrachtet“, dass sich die Führungskraft also selbstkritisch im Hinblick auf seinen persönlichen Beitrag im Hinblick auf die Ziele der Organisation hinterfragt – auch im Hinblick auf sein persönliches Gehalt, das angemessen zu sein hat! Bei einer echten (d.h. wirksamen) Führungskraft komme es nicht auf die glänzende Erscheinung oder das Genie an, sondern auf die bescheideneren, aber dauerhafteren Führungseigenschaften „der Hingabe, Entschlossenheit und ernster Zielstrebigkeit“ (ebenda S. 255-256).

Winfried Weber (Professor in Mannheim) hierzu: „Drucker erkannte schon vor siebzig Jahren, dass Führungskräfte immer dann besonders motivierend sind, wenn sie zeigen, dass sie sich voll und ganz auf die Ziele des Unternehmens konzentrieren, wenn sie sich als Person nicht zu wichtig nehmen und wenn jeder Mitarbeiter spürt, dass das Management sich ganz der gemeinsamen Sache verschreibt.Unangemessene Privilegien und wasserdichte Verträge, die goldene Fallschirme sichern, sind extrem demotivierend und werden zu gesellschaftlichen Zeitbomben. In Japan verehrt man Peter Drucker heute unter anderem auch aufgrund dieses „Strebens nach Bescheidenheit“, wie es der Drucker-Kenner Atsuo Ueda ausdrückt“; Weber, Der Mann, der viele Manager prägte, in: FAZ vom 16.11.2009, S. 12.

Henry Mintzberg, Henry Mintzbergein Professor in Toronto und Schüler Druckers, hat mit seiner skeptisch-realistischen Art und den systematischen empirischen Beobachtungen – was Manager in der Praxis wirklich tun – sich m.E. wie kein Zweiter um die Verwissenschaftlichung der empirischen Managementforschung verdient gemacht.

Nach den empirischen Analysen von Mintzberg zum Arbeitsalltag von Topmanagern, die er in den siebziger und achtziger Jahren branchenübergreifend (u.a. auch im karitativen Bereich eines Flüchtlingslagers) vorgenommen hatte, sind folgende 10 Rollen für das Management konstitutiv (Aktivitätsbündel  = das was Manager tun):

  • Zwischenmenschliche Rollen:
    • Galionsfigur/Repräsentant (Figurehead)
    • Vorgesetzter (Leader)
    • Vernetzer/Koordinator (Liaison)
  • Informative Rollen:
    • Radarschirm/Beobachter (Monitor)
    • Sender/Verbreiter (Disseminator)
    • Sprecher (Spokesperson)
  • Entscheidungsrollen:
    • Innovator (Entrepreneur)
    • Problemlöser/Krisenmanager (Disturbance Handler)
    • Ressourcenzuteiler (Ressource Allocator)
    • Verhandlungsführer (Negotiator).

Im Grunde ist nach Mintzberg jede Managementtätigkeit – zwar in unterschiedlichem Ausmaß – aber doch durch alle 10 Rollen gekennzeichnet. Dazu Mintzberg 2010, Managen, S. 121: Jeder Manager muss die „ganze Pille“ des Managerberufs schlucken.

Was braucht ein Manager? Eine besonders treffende Zusammenfassung der Erkenntnisse von Mintzberg hat Heinz K. Stahl in der FAZ vom 10.01.2012 geliefert:

„Um ein fähiger Manager zu werden, braucht man keine einzigartige Begabung, dafür aber emotionale Gesundheit, klaren Verstand und – ganz unheroisch – Bescheidenheit“ Heinz K. Stahl in der FAZ vom 10.01.2012, S. 14, der die entsprechenden Kernsätze von Mintzberg 2010, Managen, S. 241 u. 301 m.E. treffend zusammenfasst.

An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich ein beachtlicher Teil der US-amerikanischen Managementliteratur über lange Jahre darauf fokussiert hatte, wie „Leadership“ konkret ausgestaltet werden sollte. Hier hat sich dann bisweilen eine Faszination am „großen Leader“ widergespiegelt – also daran, was ein großer heroischer Leader alles können sollte (teilweise wirkte sich auch das kollektive Bedürfnis aus, einen solchen Leader zu haben) – dies kritisieren auch amerikanische Autoren wie Mintzberg 2010, Managen, S. 241 und S. 285; Vroom 2003, Situational factors in leadership, in: Chowdhury (Ed.), Organizations 21C S. 71ff.
Mintzberg geht (m. E. durchaus überzeugend) sogar so weit zu vermuten, dass der Typus der „heroischen Führungskraft“ viele gesunde Unternehmen „auf dem Gewissen“ habe. Vgl. Mintzberg 2010, Managen, S. 285 Fn. 12. Vgl. Marettek 2013, Wirksames Management für öffentliche Einrichtungen, S. 18.

Auch Dirk Baecker 1994, Postheroisches Management, S. 18, ein Bielefelder Soziologe, plädiert schon im Titel für eine bescheidene Grundhaltung als Basis für einen langfristigen Erfolg: „Postheroisches Management ist so gesehen nichts anderes als ein Management, das sein Heldentum nicht mehr in der Verfügung über Kapitalvermögen und einer Inszenierung entsprechender Risikobereitschaften und Verantwortungen sucht, sondern einen neuartigen Spürsinn für die sachlichen und sozialen Dimensionen der Organisation von Arbeit und der Verteilung von Verantwortlichkeit entwickelt, die damit einher geht.“ Baecker hat mit diesen Zeilen m.E. sehr treffend und nüchtern beschrieben, worum es im Kern geht: um Spürsinn für gelingende Menschenführung.


Interessanterweise hat das Zusammentreffen zweier weltweit relevanter ökonomischer Krisen ein grundsätzliches Nachdenken über „Responsible Leadership“ eingeleitet (vgl. Marettek 2016, Steuerungsprobleme großer Universitäten in Zeiten der Exzellenzinitiative, S. 129):

  • die durch ethische Defizite in Management und Beratung entstandenen Zusammenbrüche unter anderem des ENRON-Konzerns und in der Folge von Arthur Anderson, einer der weltweit größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften
  • den Zusammenbruch großer Teile des Shareholder-Value-Konzepts als einer der besonders intensiv propagierten Führungskonzeptionen – m.E. so etwas wie die höchste denkbare „Ausbaustufe“ der älteren mikroökonomisch-mathematisch fundierten BWL, vgl. hierzu insbesondere Financial Crisis Inquiry Commission, United States of America (Hrsg.) 2011, Der FCIC Report; Alfred Rappaport 2012, Saving Capitalism from Short-Termism, How to build long-term Value and take back our Financial Future.

In Wissenschaft und Praxis wurde eine Neuorientierung erforderlich. Während in den Business Schools plötzlich Ethikkurse boomten, hat auch die ernsthafte betriebswirtschaftliche Wissenschaft nach einer Neuorientierung gesucht.

In dieser Phase wurde 2006 die Studie „Responsible Leadership“ von den St. Gallener Wissenschaftlern Thomas Maak und Nicola M. Pless zusammen mit INSEAD (Fontainebleau) und der weltweiten PwC-Organisation herausgegeben. Der Sammelband vereint Wissenschaftler und Praktiker aus zahlreichen Ländern im Sinne einer wissenschaftlichen Antwort auf die ersten großen Bilanzierungsskandale des 21. Jahrhunderts, Enron, Worldcom. Der genannte Sammelband hat den Charakter einer die Fachdisziplinen übergreifenden Bestandsaufnahme: Maak/Pless (vgl. ebenda S. 44ff.) integrieren dabei die (hauptsächlich US-amerikanische) Managementliteratur in die weltweite psychologische Literatur und berücksichtigen zahlreiche entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Jugendhilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – fast immer geht es darum, wie Vertrauen als Kern menschlicher Beziehungsarbeit entstehen kann. Maak/Pless zitieren u.a. Piaget, Dewey, Freud, Jung, Erikson, Kohlberg, Gilligan, Spreitzer und vor allem Fleckenstein, M.P., Service learning in business ethics, Journal of Business Ethics 1997, S. 1347–51. Vgl. Maak/Pless 2006, ebenda S. 49 u. 51f.; Marettek 2013, Wirksames Management für öffentliche Einrichtungen, S. 81, 84 und 140.

Die ersten psychologisch ausgewogenen, deutschsprachigen Gesamtdarstellungen zum Management, deren Grundsätze trotz des allgemeinverständlichen Ratgeber-Charakters m.E. auch heute noch weitgehend gelten, verfassten nach meiner Einschätzung:

  • Daniel Pinnow 2005, Führen, Worauf es wirklich ankommt
  • Fredmund Malik 2006, Führen Leisten Leben, Wirksames Management für eine neue Zeit, (Malik ist Professor aus St. Gallen)
  • Reinhard K. Sprenger 2012, Radikal führen.

Wo ist die Managementforschung im deutschsprachigen Raum mittlerweile angekommen?

Aus wissenschaftlicher Sicht sei exemplarisch auf folgende aktuelle Lehrbücher hingewiesen:

  • Blessin/ Wick 2014, Führen und führen lassen, 7. Aufl. (Bernd Blessin ist Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Alexander Wick ist Professor an der Internationalen Berufsakademie Darmstadt,  die 6. Aufl. dieses Buchs hatte Oswald Neuberger bereits 2002 verfasst).
  • Müller-Christ 2014, Nachhaltiges Management, Einführung in Ressourcenorientierung und widersprüchliche Managementrationalitäten, 2. Aufl. (Georg Müller-Christ ist Professor für BWL und Nachhaltiges Management an der Universität Bremen).
  • Nerdinger/ Blickle/ Schaper 2014, Arbeits- und Organisationspsychologie, 3. Aufl. (Universitätsprofessor Dr. Friedemann Nerdinger ist Inhaber des Lehrstuhls für ABWL, insbesondere Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Universität Rostock, Universitätsprofessor Dr. Gerhard Blickle ist Leiter der Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Bonn, Universitätsprofessor Dr. Niclas Schaper ist Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Paderborn).
  • Scholz 2014, Grundzüge des Personalmanagements, 2. Aufl. (Christian Scholz ist Inhaber des Lehrstuhl für BWL, insbesondere Organisation, Personal- und Informationsmanagement an der Universität des Saarlandes).
  • Steinmann/ Schreyögg/ Koch 2013, Management, Grundlagen der Unternehmensführung, Konzepte – Funktionen – Fallstudien, 7. Aufl. (Horst Steinmann, Georg Schreyögg sind emeritierte Professoren der FAO Erlangen-Nürnberg bzw. der Freien Universität Berlin, Jochen Koch ist Professor für BWL, insbesondere Unternehmensführung und Organisation an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder).
  • von Rosenstiel/ Nerdinger 2011, Grundlagen der Organisationspsychologie, Basiswissen und Anwendungshinweise, 2. Aufl. (Lutz von Rosenstiel war Prof. für Organisations- und Wirtschaftspsychologie LMU München).
  • Wunderer 2011, Führung und Zusammenarbeit, 9. Aufl. (Rolf Wunderer war von 1983-2001 Professor an der Universität St. Gallen, Inhaber des Lehrstuhl für Führung und Personalmanagement).

Die jüngste, deutschsprachige Managementliteratur ist insbesondere dadurch geprägt, das reale Führungsfälle immer mehr auf hohem Niveau analysiert und kommentiert werden. Neben den auch in den Lehrbüchern verarbeiteten Fallstudien, verfügt auch die Ratgeber-Literatur immer mehr über eine beachtliche empirische Basis durch Fallstudien. Zwei gute Beispiele in diese Richtung sind folgende Neuerscheinungen (angesichts des etwas reißerischen Titels soll nicht die empirische Substanz und Ernsthaftigkeit der Analyse übersehen werden!):

  • Thomas Saller/ Johannes Sattler/ Ben MacKenzie 2014, Führen live, 30 Praxisfälle in der Analyse.
  • Oliver Schrader/ Lothar Wenzl 2015, Die Spielregeln der Führung.

Auch Helmut Hofbauer/ Alois Kauer 2014, Einstieg in die Führungsrolle, 5. Aufl. (1. Aufl. 2008) besitzt mittlerweile jetzt eine Sammlung konkreter anonymisierter Führungsfälle aus der Praxis (ab S. 259). Das zuletzt genannte Buch ist aber m.E. vor allem ein beachtlicher Ratgeber, wie man am Übergang von der Fach- zur Führungsverantwortung an seinen Führungsfähigkeiten arbeiten kann. Die einleitenden Abschnitte zur Führungssituation (Menschenbild, Was ist Erfolg? Rollendilemma usw., ebenda ab S. 12) sind überdurchschnittlich fundiert und praxisrelevant.

Hofbauer/Kauer betonen, dass jeder Mensch – und damit auch jede Führungskraft – ein Individuum mit eigener Geschichte, Grundüberzeugungen und Erfahrungen ist (vgl. ebenda S. 12). Die individuelle Persönlichkeitsstruktur (mit Wünschen, Bedürfnissen und Werten der Führungskraft) wird auch das Verhalten in der Führungssituation prägen (vgl. ebenda S. 12). „Dies bedeutet: Jede Führungskraft wird ihre Aufgabe individuell interpretieren und im Verhalten andere Schwerpunkte setzen.“ (ebenda)

Ergänzend noch eine aktuelle Dissertation: das Beispiel von Antje Willoh, die 2014 bei Prof. Claus Steinle (Hannover) promovierte. Vgl. Willoh 2015, Positiv erlebte Führungsbeziehungen; Entstehung relationaler produktiver Energie in der Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter.

Wie stark das Thema mittlerweile (endlich) in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, zeigen auch die beiden jüngsten Forschungsprojekte aus 2016:

  • Martin Högl/ Matthias Weiß/Silja Hartmann, Resilienz in Teams, Rückschläge im Team verarbeiten und überwinden. (Prof. Dr. Martin Heigl ist Leiter des Instituts für Leadership und Organisation, LMU München), das Projekt gehört zu dem vom Freistaat Bayern geförderten interdisziplinären Forschungsverbund Forchange von 5 Bayerischen Universitäten: www.forchange.de).
  • Sabine Sonnentag, Arbeit und Erholung, Was trägt zu guter Erholung bei? Forschungsprojekt im Fachbereich Psychologie der Universität Mannheim.